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Knabenliebe und eine letzte Kutschfahrt

24. Juni 1999

In Henning Boëtius' Novelle "Tod in Weimar" erlebt Geheimrat Goethe wenige Tage vor seinem Tod ein letztes erotisches Abenteuer

Am 28. August 1999 wird sich der Geburtstag des Geheimrates Johann Wolfgang von  Goethe zum 250. Mal jähren. Das ist für viele sicherlich nichts neues, denn: daß wir uns im „Goethe-Jahr" befinden, das merkt man allenthalben an Jubiläumssendungen, Jubiläumsveranstaltungen, Jubiläumsbüchern, etc. Zu den vielen neuen Büchern, die sich mit Goethe befassen, kommt jetzt auch eines von einem Schriftsteller, der seit einigen Jahren in der Rhön lebt und am 24. Juni 1999 aus seinem neuen Buch in Fulda lliest: „Tod in Weimar" heißt es, geschrieben von Henning Boëtius.

Kompletter Radiobeitrag (1079 k) von Christoph Käppeler vom 24. Juni 1999, "Osthessenjournal" auf hr 4 (3:04 Minuten)

(Der folgende Text ist umfangreicher als der Radiobeitrag)

Johann Wolfgang von Goethe, 82 Jahre alt,  bekommt Besuch von einem jungen Mann: Es ist Siegmund von Arnim, der Sohn von Bettine von Arnim und dem Dichter Achim von Arnim. Bettine, damals 25jährig, hatte Goethe als 60jährigen zu einer Liebesnacht verführt. Danach aber wollte er mit ihr nichts mehr zu tun haben. Ihren Sohn dagegen lädt er jetzt ein, bei ihm zu speisen. Und er unternimmt zwei Kutschfahrten durch Weimar mit dem Sprößling Bettines. Die zweite Fahrt führt zu Goethes Gartenhaus, und dort kommt es zu einer sexuellen Begegnung des Genies mit dem jungen, einfältigen Besucher. Kurz darauf wird Goethe von einer Lungenentzündung befallen, an der er binnen einer Woche stirbt. Das ist die Geschichte. Goethes Tod und sein letztes erotisches Abenteuer sind, so Autor Boëtius, Ergebnisse einer teuflisch eingefädelten Intrige von Bettine von Arnim:

„Bettine von Arnim war pleite. Ihr Mann war gestorben, es ging ihr schlecht. Sie hatte einen Schatz, aber den hatte sie nicht selber: Das waren die Briefe, die sie an Goethe geschrieben hat. Und Goethe hat diese Briefe nicht rausgerückt. Und - das ist jetzt meine These, die man natürlich nicht beweisen kann, aber ich finde sie sehr plausibel - Sie schickt ihren Sohn zu Goethe, um ihn, Goethe, zu verführen durch den Sohn, und damit ein Mittel in die Hand zu bekommen, quasi zwecks Erpressung, an diese Briefe zu kommen. Und es klappt"

Denn: Goethe vererbte ihr die Briefe - 1835 wurde Bettines Buch ein internationaler Bestseller, sie wurde berühmt und war finanziell saniert. Der Besuch ihres Sohnes in Weimar kurz vor Goethes Tod ist verbürgt. Alles andere ist natürlich Spekulation. Aber eine Spekulation, die in sich durchaus plausibel ist - auch Goethes Homophilie hält Boëtius für erwiesen:

„Man sieht's auch am Werk: Faust und Mephisto, das ist eine sehr, sehr homophile Männerfreundschaft; die Frauenrollen bei ihm sind sehr dürftig: also das Gretchen kommt ganz, ganz - viel zu kurz. Also man kann da sehr viele Indizien finden, aber: es gibt auch biographische Hinweise noch und nöcher, daß er zur Knabenliebe geneigt hat"

Henning Boëtius wollte Goethe vermenschlichen, sagt er; ihn vom hohen Podest herunterholen. Das schafft er auch. Er beschreibt die Gedanken und Gefühle eines Mannes, der der Welt als Genie gilt, und der doch an allem zweifelt, was er getan hat; depressiv ist, Angst vor dem Sterben hat, aber schließlich sein Sterben neugierig selbst beobachtet, weil er hofft, im letzten Augenblick endlich einen wahren Gedanken zu finden. Der Tod holt ihn schließlich in Gestalt eines Riesenfaultieres - ein Wesen, das ausgestorben ist. Das Riesenfaultier diente Goethe als Beispiel für eine dem Schöpfer mißlungene Kreatur, die weder Wasser- noch Landtier ist und ein mühseliges, trostloses Leben führt- wie er im Gespräch mit seinem Hofmedicus Doktor Vogel und seinem jungen Gast von Arnim erklärt:

"Bald dreht sich das Gespräch nur noch um das ausgestorbene Riesenfaultier und seine heutigen Nachkommen, das dreifingrige Ai und das zweifingrige Unau. 'Es sind die dümmsten und ungeschicktesten Tiere der Schöpfung', sagt Goethe. 'Sie übertreffen in ihrer Trägheit und Hirnlosigkeit sogar noch ihren unglücklichen Stammvater'"

Und er erklärt die Abbildung des ausgestorbenen Riesenfaultieres, die er auf einer Kupfertafel des Anatomen und Kupferstechers d'Alton gesehen hatte:

"'Etwas fiel mir übrigens an diesem Urzeitgeschöpf auf.' Goethe hebt an dieser Stelle seiner Rede sein frisch gefülltes Weinglas und blickt hinein wie in ein Gefäß, in dem ein Präparat jenes Urtieres schwimmt. 'Eine unglaubliche, ja, fast gegenständliche, uns zugleich einnehmende und abstoßende Trauer, die diese unglückliche Mißgeburt der Schöpfung ausstrahlt. Ich forschte der Sache nach und kam auf folgende Erklärung: jener ungeheure Koloß ist der personifizierte Ungeist eines mißglückten Daseins zwischen zwei feindlichen Milieus. Ursprünglich ein Wassertier und dort wie der Wal vom tragenden Element gestützt, entwickelte das Riesenfaultier gewaltige Hilfsglieder, die ihm im Meer eine komfortable Beweglichkeit verliehen. Das seltsame Wesen fühlte sich nun halb dem Wasser, halb der Erde angehörig. In dieser Zwitterrolle begab es sich in die sumpfig-kiesigen Ufer einer heißen Zone und führte dort hinfort ein mühseliges Leben, da ihm weder die Beweglichkeit des Fisches noch die Schnelligkeit des echten Landtieres verfügbar war. Allmählich entstand dadurch in ihm jene urweltliche Trostlosigkeit, die sich selbst dem heutigen Betrachter noch mitteilt.'"

Das Riesenfaultier dient Goethe als Beleg für seine Darwin widersprechende Theorie, daß der Typus der Evolution überlegen ist. Denn das Ai, das Faultier, ist geistlos und schwach und hat sich im Laufe der Jahrtausende  nicht klüger an seine Umwelt angepaßt.

Boëtius Novelle "Tod in Weimar" über den alten Goethe; Thomas Manns Novelle "Tod in Venedig" - die Parallele der Titel hat Henning Boëtius durchaus beabsichtigt:

"Thomas Mann hat sich genauso auf ein Podest gestellt wie Goethe: da sind Parallelen da. Dann ist die Parallele die Homophilie, die Doppelexistenz als bürgerlicher Ehemann und als eigentlich Homosexueller. Das ist bei Goethe eigentlich nicht mehr umstritten, aber es wird immer noch hinter der vorgehaltenen Hand gehandelt und es ist nicht offizielle Goethemeinung. Was ich überhaupt nicht begreife!”

Aus seiner Beschäftigung mit Goethes Leben und Werk heraus hatte ja Thomas Mann seine Novelle "Tod in Venedig"  geschrieben - die Mann als "Novelle von der Tragödie des Meistertums" geplant hatte.

Ähnlich ist die Novelle  „Tod in Weimar" ein Buch über die tragischen letzten Tage des  Genies. Allerdings ist es sehr amüsant zu lesen - geistreich, häufig ironisch legt der alte Goethe bei Tisch oder im inneren Monolog seine Gedanken über Naturwissenschaft dar. Zum Amüsement tragen auch die liebevollen, leicht karikierenden, aber nicht denunzierenden 16 Lithographien des Berliner Malers Johannes Grützke bei.

Vielleicht nicht nur für Germanistikstudenten könnte es reizvoll sein, sich mit Boëtius' Verhältnis zur Romantik zu beschäftigen - denn früher, so sagt er, habe er immer die "Söhne" Goethes - Kleist z.B. - gegen den "Alten" verteidigt. Oder E.T.A. Hofmann in seinem Roman "Undines Tod" als Vorbild für seine Romanfigur Philipp Kreisler genommen. Bettine von Arnim als Gattin des romantischen Dichters Achim von Arnim, als Liebhaberin Goethes; später ihres Sohnes - das erinnert an die ebenfalls in der Romantik typischen Spiegelmotive.

Wer Henning Boëtius - der seit Jahren in der Rhön sein Domizil hat - sein neues Buch selbst vortragen hören will: Am 24. Juni 1999 liest  er aus „Tod in Weimar" in Fulda
- um 20 Uhr in der Buchhandlung Ulenspiegel in der Löherstraße 13.

Henning Boetius: «Tod in Weimar».Merlin Verlag, Gifkendorf. 104 S., 32 DM.

Siehe auch:
27. August 1997 "Krimispannung für Germanisten und andere:'Undines Tod' - ein neues Buch von Henning Boëtius"

19. November 1998. "Ich wäre ein Piper geworden" - Der neueste Piet-Hieronymus-Krimi des Wahl-Fuldaers Henning Boëtius heißt "Das Rubinhalsband" und spielt in der mystischen, wilden und whiskeygetränkten Landschaft Schottlands.

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© 1999 Christoph Käppeler

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